J. Peakman: Sexual Perversions

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Titel
Sexual Perversions, 1670–1890.


Herausgeber
Peakman, Julie
Erschienen
London 2009: Palgrave Macmillan
Anzahl Seiten
291 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Hiram Kümper, Geschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit, Universität Bielefeld

Perversion ist keine Kategorie, mit der sich historisch orientierte Forschung bislang ausgiebiger beschäftigt hätte. Das hat sicher nicht nur Gründe der Pikanterie. Schon als sich vor rund zwanzig Jahren eine deutsch-französische Arbeitsgruppe von Literaturwissenschaftlern in Greifswald mit Sexuelle[n] Perversionen im Mittelalter (Wodan Bd. 46, 1994) auseinandersetzte, wurde ein Problem deutlich, das sich in ganz besonderem Masse bei der Beschäftigung mit der Vor- oder eben der im vorliegenden Band thematisierten Frühmoderne ergibt: es wird dabei nämlich ein Konzept historisiert, das im Grunde erst in der Wiegenzeit der Sexualpathologie, in den späteren 1890er Jahren also, formuliert wird. Dennoch hat man zu allen Zeiten gewisse Formen der Sexualität und Erotik als deviant, abnorm, übertrieben oder anderweitig anstössig empfunden. Jener Zeit, in der in Europa die Bindekraft moraltheologischer Sexualitätskonzepte (wie den Sünden «wider die Natur ») ebenso nachliess wie die gesetzgeberische Regulation, wendet sich nun also dieser
Sammelband zu.

Geographisch fokussiert der Band dabei merklich auf Grossbritannien sowie dessen kolonialer Vergangenheit. So befassen sich etwa Pashmina Murthy und Sandra Adams in den beiden letzten Beiträgen des Bandes mit dem britisch-kolonialen Blick auf die indische und chinesische Sexualität. An diesen wie auch an anderen Beiträgen des Bandes wird wieder deutlich, dass der Begriff «Perversion» von den Beiträger(inne)n durchaus weit ausgelegt wird. Während nämlich Murthy die Perversion einer nicht bloss metaphorisch sexualisierten Sicht auf Gesellschaft am Beispiel des im kolonialen Diskurs feminisierten Bengalimannes betrachtet, untersucht Adams ein im engeren, nämlich später von Sexologen als «pervers» pathologisiertes Phänomen: den Fussfetisch, den man in der traditionellen Form der chinesischen Lotosfüsse zu erblicken glaubte. Weitere Untersuchungsfelder, die von den Beiträger(inne)n behandelt werden, sind etwa cross-dressing, gleichgeschlechtliche Sexualität, Pädophilie, Flagellation, Vergewaltigung, Nekrophilie und unterschiedliche Formen der Effeminisierung von Männern bzw. Maskulinisierung von Frauen. Immer wieder spielt auch Pornographie eine Rolle in einzelnen Beiträgen.

Der Band wird eingeleitet durch einen ausführlichen und sehr belesenen Rundumblick «Sexual Perversion in History» (1–45) der Herausgeberin. Peakman ist bereits zuvor und auch seit Erscheinen dieses Band mit einer Vielzahl von Arbeiten der Sexualitätsgeschichte hervorgetreten. Dass dabei für ihre treueren Leser hier und da Bekanntes aufscheint, liegt dadurch auf der Hand. Jedenfalls aber liefert diese Einleitung eine sehr dienliche Klammer, um die im Einzelnen ja sehr weit gestreuten Beiträge beieinander zu halten.

Insgesamt bietet der Band eine Menge interessanter Perspektiven auf die Verurteilung sexueller Praktiken und erotischer Repräsentationen während einer für die europäische Sexualitätsgeschichte wichtigen Epoche. Der «kontrollierte Anachronismus», ein Konzept heranzuziehen, das doch eigentlich erst in den Folgejahrzehnten um 1900 entwickelt wird, geht freilich nur zum Teil auf. Gern hätte man expliziter erfahren, welche Entwicklungen in den rund zweihundert Jahren, die der Sammelband abzudecken sucht, den Sexologen des ausgehenden 19. Jahrhunderts den Weg hin zu ihrem neuen Konzept «Perversion» geebnet haben. Für diese wichtige und spannende Frage kann man aus den einzelnen Beiträgen manches Material ziehen – die Antwort wird aber beflissentlich dem Leser selbst überlassen. Man kann das natürlich mit gutem Recht auch positiv wenden: ein lesenswerter Anfang ist gemacht. Jetzt müsste darauf allerdings – vermutlich besser monographisch als durch weitere Sammelbände – auch systematisch aufgebaut werden.

Zitierweise:
Hiram Kümper: Rezension zu: Julie Peakman (Hg.), Sexual Perversions, 1670–1890, London, palgrave macmillan, 2009. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Religions- und Kulturgeschichte, Vol. 105, 2011, S. 549-550.

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